Yoga und die Technik des Klavierspiels

von Filippo Faes

„Da ist eine Lebenskraft, eine Energie, ein Impuls, die durch dich in Aktion umgewandelt wird, und weil du einzigartig in der Menschheitsgeschichte und in allen Zeitaltern bist, wird dieser Ausdruck ebenso einzigartig und unnachahmlich sein. Wenn du ihn zurückhältst, wird er durch niemanden anderes existieren können und für alle Zeit verloren sein. Er würde der Welt vorenthalten. Es ist weder deine Aufgabe, zu beurteilen, wie gut er ist oder wie viel er wert ist, noch, ihn mit dem von anderen zu vergleichen. Deine Aufgabe ist, ihn zu bewahren, ihn deutlich und unmittelbar zu äußern; den „Kanal“ offen zu halten.“
Martha Graham

Einleitung

Die Möglichkeiten unseres Lebens ausleben

Ähnlich wie in einem Königspalast, besitzt der Palast unseres Daseins in unserer Kindheit eine unendliche Anzahl von Räumen. Es sind die Räume unserer Möglichkeiten, unserer tausend Begabungen, sie sind das Ausmaß von uns selbst, das nur darauf wartet, erforscht zu werden, in die Praxis umgesetzt zu werden und in eine Handlung überführt zu werden, um dann weiter zu expandieren. Sie sind die erstaunliche Formbarkeit, die unser Gehirn besitzt und mit dem wir uns unsere Zukunft gestalten, die Gelegenheiten, die sich uns immerfort bieten und sich kontinuierlich erneuern.

Die Räume unserer Kindheit sind größtenteils noch leer, unbestimmt, noch nicht von unseren Erfahrungen „ausgestattet“: Sie beginnen gerade, die Prägung unserer Gegenwart, unserer Persönlichkeit und der eigenen Lebenserfahrung kennenzulernen. Noch sind sie wenig festgelegt, wenngleich einladend und reich an Anreizen, in jedem Fall sind sie bereit, sich zu öffnen und uns, und unsere Neugier auf neue Erfahrungen, in jedem beliebigen Moment willkommen zu heißen, in dem wir entscheiden, uns auf die Suche nach ihnen zu begeben.

Später, wenn wir älter werden, pflegt jeder von uns Interessen, beschäftigt sich und hat Umgang mit einem oder mehreren Betätigungsfeldern und Unterhaltungsbereichen, lebt Gefühle und Leidenschaften. Neben diesen entstehen die Gewohnheiten… All dies bedeutet, dass wir beginnen müssen, einige Räume anstelle von anderen als unseren ständigen Wohnsitz auszuwählen, es bedeutet, in ihnen einen immer größeren Teil unserer Zeit zu verbringen und sie in behaglichster Weise einzurichten, am geeignetsten für unsere Gewohnheiten; und es bedeutet sie zu finden und anschließend die Strecken zu wiederholen, die einen Raum mit dem anderen verbinden.

Für die meisten von uns ist die Anzahl dieser bewohnten Räume viel, ja sogar, sehr viel geringer als die Anzahl, die unser Körper und unser Geist hergeben würden: Allerdings beruhigt uns wenigstens am Anfang der Gedanke, dass uns auch die Nebenräume, obgleich sie momentan unbewohnt sind, weiterhin zur Verfügung stehen, bereit sich zu öffnen und uns aufzunehmen, sobald wir den Wunsch oder das Bedürfnis danach verspüren.

Und eines Tages kommt uns in den Sinn, wieder einmal einen von ihnen zu betreten, einen Raum, in den wir seit langem keinen Fuß mehr gesetzt haben: Doch es erfasst uns ein vages Unbehagen, oder Trägheit… Man stelle sich vor, wie staubig er sein wird und voll schlechter Luft, wo er doch seit Monaten nicht besucht wurde. Vielleicht ist es besser abzuwarten, besser wäre ein schöner Tag, sonnig und warm, um die Fenster aufzureißen und frische Luft hereinzulassen…

Aber wenn dieser Tag kommt, ist bereits einige Zeit vergangen, und im unbewohnten Raum sind die Türangeln eingerostet, sind abweisend geworden, ausreichend, um uns von dem Versuch, die Tür zu öffnen, abzubringen. Wir finden dort sicherlich Spinnweben, Schmutz, der sich mit der Zeit angesammelt hat. Und wir denken, dass wir uns sicherlich völlig einstauben, wenn wir versuchen würden, hineinzugehen oder die Fensterläden zu entfernen.

Nun ist der Raum dunkel, weder freundlich noch behaglich und allein die Vorstellung hineinzugehen, bereitet uns Unbehagen, untergraben und zersetzt sind viele unserer bequemen Sicherheiten, die wir uns in der Zwischenzeit errichtet haben, derart, dass unser Verstand sich sofort anderen Dingen zuwendet, abschweift, ausweicht. Ab diesem Moment ist es wahrscheinlich, dass wir nie mehr diesen Raum betreten, ab diesem Moment ist es sicher, dass sich unser Leben eingeschränkt hat. Alles bisher Beschriebene hat einen Namen: Älter werden.

Das Älterwerden erscheint uns wie eine schiefe Ebene. Hat man auf ihr einmal Geschwindigkeit aufgenommen, wird es schwierig, in die Bewegung einzugreifen oder auch einfach nur den Kurs zu ändern: Die Gewohnheiten üben eine Anziehungskraft aus, die unserer Existenz eine Last auferlegt und uns an die wenigen Räume des Lebens bindet, die wir gewohnt sind, aufzusuchen. Wer sich von uns darin übt, diesen Prozess in sich und in den anderen zu erkennen und zu demaskieren, wird Tag für Tag feststellen, wie stark er unser Handeln bestimmt, unsere Sprache, die Art nachzudenken und sogar die bloße Körpersprache (also das Einherschreiten, das Gestikulieren, der Ausdruck der Augen, der Gesichtsaudruck und die Körperhaltung) der Personen, die ihn umgeben. Mit einem Wort, wer lernt ihn wahrzunehmen, auf ihn zu achten, ist in der Lage zu sehen, in welchem Maß dieser Prozess in sich selbst und in den anderen vorhanden ist.

In unserem Leben ist es unvermeidlich, dass uns diese schiefe Ebene begegnet, früher oder später, (sie ist es, die unter anderem für diese typische Empfindung sorgt, nach der, je mehr die Jahre vergehen, die Zeit umso schneller rennt und uns zwischen den Fingern zerrinnt). Und doch ist es keineswegs nötig, sie hinzunehmen, das heißt, sich von ihr beeinflussen zu lassen. Das Gefälle ist eine Gefahr, sicherlich, jedoch ist jede Gefahr auch eine Chance, so wie jedes Negativ in der Fotografie benötigt wird, um ein Positiv zu erhalten. Im Gegenteil, auf einer schiefen Ebene können sich, wie in einem Tanz Entwicklungen vollziehen, die noch eleganter, schwungvoller und leichter sind, als die auf einer horizontalen Oberfläche! Es reicht zu begreifen, sich noch einmal der Dynamik und der Kräfte bewusst zu werden, die das Gefälle auf uns ausübt, um zu lernen, diese zu nutzen, wie in einem Spiel, zu unserem Vorteil.

Im Yoga ist jedes Asana, eine jahrtausendealte Weisheit zusammenfassend, genau so angelegt, dass es uns beim Aufsuchen und Wiederfinden von einem oder mehreren jener Räume begleitet, die in Gefahr sind, als erste aufgegeben zu werden. Und in jeder Yogasitzung erfahren wir diese Räume mit dem eigenen Leib, sammeln körperliche Erfahrungen darüber, was es heißt, sich auf von uns unerforschte Regionen einzulassen und unsere Grenzen zu erweitern. Aus diesem Grund folgt dem anfänglichen Gefühl des Unbequemen und Unbehaglichen der Asanas bald, jedes Mal wenn wir uns ihrer Ausübung nähern, der Eindruck, alte Freunde wiedergefunden zu haben.

Auch die Musik hat eine ähnliche Wirkung, sie ist in ihrer Beschaffenheit die vielschichtigste der Künste: Sie auszuüben – und zu lernen, in musikalischen Begriffen zu denken – fügt unserem Realitätsbezug und unserem zeitlichen Empfinden neue Dimensionen hinzu, und festigt außerdem in uns das Bedürfnis, auf den Frequenzen jener Hintergrundharmonie widerzuklingen, die am Anfang unseres Einfühlungsvermögens in die Welt und in uns Selbst steht.

Es sind unendliche Räume, die die Musik erschließt und uns erlaubt zu erkunden. Komponieren, zum Beispiel, ist eine Reise in unser Selbst, dank welcher der fürstliche Palast, den jeder von uns in sich verwahrt, von Mal zu Mal konkreter wird, in Gestalt von Klangarchitektur, die wir dabei sind zu erschaffen, welche sich dann jedes Mal, wenn wir zurückkehren um sie aufzusuchen, unter neuen und immer unterschiedlichen Aspekten präsentiert, obwohl sie immer Ausdruck ein und derselben schöpferischen Persönlichkeit ist. Nur wenige Dinge sind so berauschend wie der Kontakt mit der eigenen Schöpfungskraft, wenn sie Form annimmt und zur Klang-Materie wird. Und ich bin sicher, dass der Mensch noch immer keine Droge erfunden hat, deren Wirkung so stark ist, wie die bei der Begegnung mit uns selbst, im Reich der unendlichen Möglichkeiten und dennoch außergewöhnlich real.

Die Beziehung zum Instrument und einige Beobachtungen zur Art des Übens

Auch das Spielen eines Instrumentes bringt die Ausübung einer psychophysischen Disziplin, mit einer ständigen Erweiterung, Kontrolle und Vervollkommnung von uns selbst, mit sich. Das Erlernen der Technik und die Kenntnis der Philosophie, die ihr zugrunde liegt, entspricht einer Yoga-Übung, die man mit Hilfe des Instrumentes durchführt. Vorausgesetzt, dass wir, während wir üben, unsere volle Aufmerksamkeit auf uns gerichtet halten, können die Ergebnisse über die einfache Weiterentwicklung der Technik hinausgehen (also die Verkürzung der Entfernung zwischen uns und der vollen Realisierung unseres musikalischen Willens) und darauf abzielen „unseren Geist Tag für Tag zu polieren, wie einen Spiegel, der die Realität mit kristallener Klarheit widerspiegelt“, wie die Zen-Meister sagen. Das Üben der Technik kann also die Funktion übernehmen, die das „Abschießen der Pfeile“ innehat, im Buch von Eugen Herrigel „Zen in der Kunst des Bogenschießens“, auf das wir später noch zurückkommen werden. (Es ist kein Zufall, dass wir es auch beim Klavier, wie schon beim Bogen mit der Sehne, mit gespannten Saiten  zu tun haben, von denen ein Ton „abgeschossen“ wird…).

Damit ist die Wahrheit, die in uns eingeschlossen ist, wie beim Bogenschießen, die eigentliche Zielscheibe, der wir uns zuwenden. Auf dieselbe Weise kann die Klaviertechnik als praktische Veranschaulichung unserer Herangehensweise an das Leben verstanden werden, des ständigen Trainierens und Überprüfens, um geschehen zu lassen, was wir uns als Ziel festgelegt hatten (1), jede unechte Vorsätzlichkeit dabei abstellend, die, zusammen mit der Angst zu Versagen, die Reinheit der Ausführung stören würde.

Es ist selbstverständlich von wesentlicher Bedeutung, dass eine kohärente Lehre die Grundlage der Klaviertechnik bildet, dergestalt, dass jedes Element auf den festgelegten und anfangs überprüften Voraussetzungen basiert und dadurch ein System bildet, in dem jede Aktion unabhängig ist und anderen nicht zuwiderläuft.

Für mich waren die Erfahrungen, die ich während meines Studiums in Neapel bei Vincenzo Vitale, von 1979 bis 1984, dem Jahr seines Todes, sammeln konnte, von großer Bedeutung. Vitale war ein Mensch, ein Künstler und Lehrer von großer Bedeutung und von beeindruckender Persönlichkeit (Eigenschaften die von ebenso ausgeprägten Widersprüchen seines Charakters begleitet wurden, die, speziell in den letzten Jahren, die Beziehungen zu ihm recht stürmisch gestalteten, und die Strecke, auf der man dahin gelangen konnte, wo man aus seinem Wissen schöpfen und großen Nutzen aus seinen Lektionen ziehen konnte, glich der eines Lachses, der stromaufwärts die Stromschnellen eines Flusses überwinden muss).

Andererseits ist es möglich, dass eine Persönlichkeit wie die Seine dazu ausersehen ist, alles im Großen zu tätigen und mit einer gewissen fatalen Unabwendbarkeit: Vom Antworten am Telefon mit seiner berühmten tiefen Stimme bis hin zu seiner Schroffheit und den widersprüchlichen, definitiv selbstzerstörerischen Seiten seines Charakters.

In jedem Fall wird ihm eine erstaunliche didaktische Fähigkeit zuerkannt, die während eines langen und intelligenten Studiums der neapolitanischen Klaviertradition und von zahlreichen Abhandlungen zur Physiologie des Klaviervortrags (darunter zuallererst die von Attilio Brugnoli) gereift ist. Und vor allem durch eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Synthese und zur Neubearbeitung, durch seinen Instinkt, der es ihm erlaubte, ins Schwarze zu treffen, indem er Lektionen erteilte, in denen er sich nicht im Theoretisieren und in unnötigen Details verlieren musste, sondern Situationen und technische Probleme oft mit einer derart gezielten, entscheidenden und wesentlichen Berührung, verwandeln und lösen konnte, dass es fast schöpferisch wirkte.

Nehmen wir an, oder besser, setzen wir voraus, dass jedes Thema, das der Physiologie des Klavierspielens innewohnt, notwendigerweise auf  Annährungen und sogar drastische Vereinfachungen zurückgreifen muss, um dem Schüler tatsächlich zu nützen, und ihn nicht, im Gegenteil, zu lähmen, so hat er jedenfalls einige Prinzipien entwickelt, die ich beibehalte und, indem ich sie bei mir und meinen Schülern angewandt habe, konnte ich immer feststellen, dass sie sehr effizient sind. (2)

Das erste der Prinzipien ist, dass die Spielposition der Hand keine Voraussetzung sondern eine Konsequenz ist. Die traditionellen Schulen haben ihre Schüler fast immer so ausgebildet, dass ihnen eine korrekte Ausgangsposition vorgeschrieben wurde, zusammen mit Übungen, bei denen diese beim Spielen beibehalten werden musste. Vitale hingegen war der Ansicht, dass die Vorstellung einer guten Position aus der Beobachtung der großen Pianisten gefolgert worden wäre, für die ebendiese Position jedoch nichts anderes war, als das Resultat einer korrekten Muskelhaltung, die sie, mehr oder weniger instinktiv, eingenommen hatten.

Folglich erklärte er, dass es nötig ist, bei der Analyse und dem Studium der Körperhaltung zu beginnen. Und erst dann, nachdem die muskulären Abläufe in Gang gesetzt, überwacht und richtig geleitet worden sind, um zum Spielen beizutragen, erreicht man die Position, die von Person zu Person notwendigerweise variieren wird, je nach der Beschaffenheit ihrer Hand und ihrer Muskelstränge. Um es weiter zu vereinfachen, der Finger hat beim Klavierspiel zwei Funktionen: Die, das Gewicht des Unterarms zu stützen und die, die Taste anzuschlagen.
Abbildung 1

Um die erste Funktion auszubilden, die den Muskeln und Beugesehnen übertragen wird, fängt man mit einer Übung, eben einer Beugung an, in der, ausgehend von einer Position, in der sich die Schulter und der Oberarm im Zustand völliger Ruhe befinden (der Oberarm fällt mit seinem ganzen Gewicht herab, um es so auszudrücken), und in welcher der Unterarm auf einem Finger ruht (oder besser lastet), der sich gerade noch an der Tastatur festhält,

Abbildung 2

entwickelt sich langsam eine Anspannung der Fingerbeuger, die sich von der Fingerspitze (distale Phalange) über die mediale und proximale Phalange und dann zur Mittelhand und Handwurzel überträgt,

Abbildung 3
Abbildung 4

dann über das Handgelenk zu Elle und Speiche, und auf diese Weise eine Serie von Hebeln bildet, die allein durch die Tätigkeit des Fingerbeugers in der Lage sind, den Unterarm zu tragen und es somit ermöglichen, die gewünschte Position einzunehmen.

Abbildung 5

Das gesamte Gewicht lastet damit auf dem Finger. Wesentlich für diese Übung, die langsam und mit einer gewissen Konzentration ausgeführt werden muss und nie, bevor man nicht die absolute Gewissheit hat, dass sich der Arm im beschriebenen Ruhezustand befindet, ist, dass die Bewegung des gesamten Hebelsystems ausschließlich durch die Tätigkeit des Beugers verursacht wird (und entsprechend nicht durch Anheben des Unterarms unterstützt wird – was man sofort daran merkt, dass sich das Gewicht nicht vollständig auf die angeschlagene Taste überträgt). Und noch wichtiger ist, das keinerlei Druck nach unten ausgeübt wird (das heißt, dass man nicht auf die Taste drückt) wie es jedoch manchmal im Übereifer geschieht.

Die einzige Kraft, mit der sich die Muskeltätigkeit auseinanderzusetzen hat, ist die Schwerkraft. (Dieser Punkt ist entscheidend, weil ein unangemessener Druck eine übermäßige Anstrengung der Beuger verursacht, die schlimmstenfalls zu einer Sehnenscheidenentzündung führen kann – typischerweise meistens an der Unterseite des Unterarms, in der Nähe des Ellenbogens. Ich habe Erfahrung im Lösen verschiedener Fälle von Sehnenscheidenentzündungen, die überstanden und geheilt werden konnten, indem ich dem Schüler genau dieses Zuviel an Druck bewusst gemacht und dadurch entfernt habe. Auf diese Weise konnte die richtige Wirkung des Gewichts in den meisten Fällen, mehr als notwendig, wiederhergestellt werden, um den gewünschten Klang zu erzielen).

Obwohl das Konzept sehr einfach ist (oder gerade deswegen), erfordert diese Übung eine beträchtliche Konzentration und mentale Freiheit, um richtig ausgeführt zu werden. Besser wäre es, sie unter Anleitung eines erfahrenen und einfühlsamen Lehrers zu machen und in jedem Fall immer in kleiner „Dosierung“, weil es einer großen Klarheit des Geistes und großer Aufmerksamkeit bedarf, um das, was wirklich gerade mit unseren Muskeln geschieht, wahrzunehmen, und um zu vermeiden, dass wir der Täuschung erliegen, zu der uns unsere Gewohnheiten oft in Form von verfälschten Wahrnehmungen verleiten. Das Ziel, das von der erreichten Haltung verkörpert wird, wird danach zum Ausgangspunkt für den Aufbau einer technischen Methode, die schließlich in noch umfassenderen Formeln mündet.

Die nächste Übung besteht in der Verlagerung des Gewichts (das heißt, ausgehend von der Situation, die wir erreicht hatten – Abb. 5 – in der das gesamte Gewicht auf dem zweiten Finger ruht, führt man ein schnelles, fast sofortiges Anspannen, zum Beispiel des dritten Fingers aus, während man gleichzeitig den zweiten entspannt). Auf diese Art verlagert sich das Gewicht, wie beabsichtigt, auf den dritten Finger, der die entsprechende Taste anschlägt (man fährt Ton für Ton fort). Dieser Ablauf ist das Prinzip des Spielens von cantabile.

Zugegeben, der Klang, den Vitale dem Klavier entlockte, wenn er diese sehr einfache und wesentliche Übung vorführte, war von solcher Amplitude, Fülle und Ausdrucksstärke, wie ich sie später nur selten wieder hörte, und das, obwohl seine Hand, die imposante Ausmaße hatte, praktisch bewegungslos blieb. Ohne jegliche Erschütterung, jegliche Stöße oder irgendeine erkennbare Anstrengung, übertrug sich das Gewicht des Arms einfach von einem Finger auf den anderen. Während man dieser Vorführung beiwohnte, bekam man wiederum einen Eindruck, der dem von Herrigel beschriebenen nicht unähnlich ist, wenn sich der Pfeil vom Bogen seines Meisters abschießt, ohne dass seine Hand, sein Arm oder sein Bogen auch nur die geringste Erschütterung verrieten, die ihre Gelassenheit gestört hätten. Man nahm es so wahr, als wäre es nicht der Meister, der handelte, sondern der Schuss, der stattdessen „von ihm abfällt“, schreibt der deutsche Philosoph.

Der Gabe des Zen-Meisters können wir die Kontrolle durch das Gehör zur Seite stellen, weshalb wir durch ein gutes Training in der Lage sind, die Übung zu beurteilen, die vom Schüler ausgeführt wird, indem wir lediglich dem erzeugten Klang lauschen, während wir in eine andere Richtung schauen und den Schüler dann bitten, diesen oder jenen Bereich des Arms oder der Hand zu entspannen. (Man muss präzisieren, dass nur der Eindruck der Anspannung dort wahrgenommen wird, weil die wirkliche Anspannung von anderer Stelle herrührt – das heißt zum Beispiel, dass das typische Gefühl einer Kontraktion im Bereich zwischen Handrücken und Handgelenk, das man den Schüler lehren kann beizulegen, womit man gleichzeitig die Klangqualität verändert, offenkundig von einer Muskeltätigkeit im Unterarm herrührt…).

Auch der Fall des Armes wird innerhalb dieses Systems zu einer Aktion, die mit dem Zustand der Muskeln aus Abb. 5 beginnt und endet. Eine schnelle – und wiederum fast sofortige – Anspannung des Bizeps (als Unterarmbeuger), hebt den Unterarm zusammen mit der Hand an und lässt ihn gleich darauf wieder auf einen Finger fallen, der den Arm durch die Anspannung des entsprechenden Fingerbeugers (wie oben beschrieben) gewissermaßen im Fallen auffängt und stützt, und ihn in den Zustand von Abb. 5 und in die Spielposition zurückführt. Vitale bestand darauf, dass die Anspannung des Unterarmbeugers auf schnellstmögliche Art erfolgen müsse, um eine unnötige Steifheit zu vermeiden. (Ähnliche Empfehlungen bezüglich der Tätigkeit der Fingerbeuger bei der Gewichtsverlagerung und ebenso bei der der Strecker während der Ausholbewegung).

Eine weitere wichtige Beobachtung ist die, dass sich die Hand in dem kurzen Moment, in dem der Unterarm erhoben ist und sich anschickt wieder herunterzufallen, nicht ebenfalls erheben darf, sondern vielmehr gesenkt bleibt (das heißt, sie darf mit dem Unterarm keine, durch die Anspannung der Streckmuskeln hervorgerufene, fest verbundene Einheit bilden). Mit anderen Worten: Man darf das Handgelenk nicht versteifen. Fährt man in dieser Weise fort, wird auch das Üben der Oktaven eine Übung aus Fall-Abfolgen, in denen der Unterarm statt von einem einzelnen Finger, von einer Art Brücke zwischen Daumen und kleinem Finger (Abb. 6) getragen wird.
Abbildung 6

Das, was wir bisher beschrieben haben, sind die ersten Bausteine, auf denen man einen ganzen Gebäudekomplex errichtet, der, im ständigen Werden begriffen, in der Lage sein muss, sich zu verbessern, sich zu formen, den Anforderungen gerecht zu werden, auch wenn diese im Gegensatz zu einigen der Voraussetzungen stehen, die sie verursacht haben, ohne Scheu, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und diskutiert zu werden.

Einer der Grundsätze, die das Fundament bilden, ist, wenn möglich zu vermeiden, zwei Muskeln gleichzeitig zu betätigen, die einander gegensätzlich sind. Das scheint offensichtlich, und doch schreibt die sogenannte Hämmerchen-Übung, mit der Generationen von Pianisten ihr Üben begannen, streng die gebeugte Haltung jedes einzelnen Fingers vor, wodurch Beuger und Strecker von Anfang an in Konkurrenz stehen (die einen beugen den Finger, die anderen heben in an), und darüber hinaus verlangt sie, den 4. Finger allein anzuheben, ein Unterfangen, das die Sehnenplatte (Aponeurose) beansprucht, die die Streckmuskeln des 3., 4. und 5. Fingers untereinander verbindet und das damit eine theoretische Unabhängigkeit anstrebt, die sowohl überflüssig als auch schädlich und unnatürlich ist.

Indem man diesem Gebäude nach und nach Bausteine hinzufügt (der nächste Schritt wird im Einführen der Ausholbewegung bestehen, um die zweite Funktion auszuführen, die diese innehaben können: die Taste anzuschlagen), erreicht man Übungen, in denen jeder Fallbewegung eine Ausholbewegung folgt – was bedeutet, dass die zweite Note wiederum durch Gewichtsübertragung gespielt wird, diesmal jedoch unter Verwendung von zusätzlicher Energie, die diese Art „Anlauf“ liefert, die das Anheben des Fingers ist. Gewöhnlich beginnt man mit dem 2. und 4. Finger, fügt dann den 3. hinzu, danach den 5., und erreicht so die Folge 2-4-3-5, die der Ausgangspunkt der bekannten Vier-Finger-Übung ist.

Am Ende ist es tatsächlich nicht wichtig, wie viele Übungen gemacht werden, sondern wie sie durchgeführt werden. Das heißt, es zählen die Grundsätze, nach denen sie angewendet werden.

Hier ist nicht der richtige Ort für eine Abhandlung zur Klaviertechnik, die von der Lehre von Vincenzo Vitale ausgeht (und vielleicht gibt es dafür überhaupt keinen). Im Übrigen hatte nicht einmal er selbst jemals eine schreiben wollen, weil er zu Recht der Meinung war, dass die Weitergabe dieses Wissens einzig der Intuition des Lehrers übertragen werden kann und seiner Fähigkeit, eine einfühlsame Beziehung zwischen sich und seinem Schüler herzustellen (letztendlich ein wechselseitiges Reflektieren). Ich habe mich darauf beschränkt, einige der Leitgedanken zu umreißen.

Wie bei jedem Beispiel einer konsequenten Lehrmethode, die in der Übung einer bestimmten Disziplin auf die Perfektionierung von uns selbst ausgerichtet ist, bin ich überzeugt, dass ihr Wert und die Felder in denen man aus ihr Profit ziehen kann, über den Bereich der Disziplin selbst hinausgehen.

Das “Ins Visier nehmen“ zu lernen und jede eigene Handlung immer stärker zu fokussieren, zu üben, die Haltung der Hand als Ergebnis eines dynamischen Gleichgewichts zu verstehen, das durch das Ausbalancieren der Energien, die wir ins Spiel bringen, fortwährend verbessert werden kann – ein Ergebnis, das nie fest und erstarrt ist, sondern in ständiger Weiterentwicklung – wird sich in einer breiteren Perspektive widerspiegeln, um die Position zu bestimmen, die wir selbst innerhalb jenes Netzes von dynamischen Interaktionen einnehmen, das unser Dasein ist.

Einige letzte Punkte zur Klaviertechnik ergänzend, möchte ich daran erinnern, wie wesentlich in dieser Lehrmethode der Begriff des Anhaltens ist, d. h. das Bestimmen der Zielpunkte (z. B. der höchste Ton einer Tonleiter oder eines Arpeggio, oder der erste einer neuen Tonart im Verlauf der 5-Finger-Übung), wo die Bedingungen aus Abb. 5 wieder hergestellt werden (und zwar: Fingerbeuger ist maximal angespannt und stützt den Unterarm, das gesamte Gewicht auf ihm; die Schulter, der Unterarm selbst und darüber hinaus – soweit möglich – die restlichen Finger, im Ruhezustand). Üblicherweise würde die Fermate zum Beispiel auf einer Tonleiter über vier Oktaven, die in Quartolen gespielt wird, auf dem ersten Ton der 8. Quartole erfolgen, für gewöhnlich auf dem 5. oder 4. Finger der rechten Hand und auf dem Daumen, 2. oder 3. Finger der Linken. (In der gegenläufigen Tonleiter hingegen, mit beiden Händen vom selben Ton ausgehend, wäre der Haltepunkt auf dem ersten Ton der 4. Quartole).

Das Halten hat für das Klavierspielen eine sehr große Bedeutung: Während wir auf einer Taste verharren, die wir gerade angeschlagen haben, erfahren wir den Zustand einer dynamischer Ruhestellung, aus der heraus es immer möglich ist, sich zu verbessern (der Finger schwungvoller, jede wahrgenommene Spannung des Handrückens und des Unterarms entspannt sich, Schulter locker).

Diese Tendenz zur Verbesserung beeinflusst daraufhin den Ablauf der restlichen Tonleiter (oder eines Arpeggios, oder irgendeiner anderen Übung) und macht mit dem „Fotografieren“ der in den Momenten der Ruhe wahrgenommenen Empfindungen vertraut. Diese verkürzen dann immer mehr ihre Dauer, bis sie praktisch ganz verschwinden, behalten jedoch ihre Wirksamkeit: Am Ende übernimmt man die Gewohnheit, im Verlauf von besonders anspruchsvollen und ermüdenden Aufführungen, die geeignetsten Momente zum Abladen von Spannungen zu erkennen und dadurch an Stärke und Brillanz zu gewinnen.

Der Abschnitt über die Technik ohne Gewicht (also das Spielen mit angespanntem Unterarmbeuger – während die Schulter stets entspannt bleibt – wodurch sich das Gewicht soweit reduziert, dass für das Niederdrücken der Tasten, allein der Anschlag der Finger zuständig ist) folgt dem bisher Beschriebenen.

Diese Technik, mit der auf den vorangegangenen Seiten beschriebenen abzuwechseln, bedeutet die Unterschiede in unserem Spiel zu vergrößern (zuerst die maximale Stütze, das gesamte Gewicht – und dann, im Gegenteil, ohne Gewicht, so schnell und leicht wie möglich). Das bedeutet zu expandieren, die Bandbreite unserer Möglichkeiten zu vermehren, einen immer größeren Raum zu schaffen, in dessen Innerem unsere Ausdrucksmöglichkeiten Spielraum bekommen, sich ausbreiten.

In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, welche große Wirksamkeit Vitale den Rhythmusvarianten zuschrieb, durch die eine besonders anspruchsvolle Passage gemeistert werden kann. (3)

Zum Abschluss dieser kurzen und partiellen Abhandlung über einige Aspekte der Technik – das stelle ich immer wieder als gelebte Erfahrung an mir selbst fest und es zeigt sich auch immer mehr an meinen Schülern – sei erwähnt, dass die Technik, wenn man sie mit der Kenntnis ihrer Grundlagen meistert und studiert, zu einem Mittel werden kann, mit dem wir unsere Ausdrucksmöglichkeiten verstärken und ausbauen können, um die verschiedensten Hürden zu nehmen und unser Ich zu erweitern.

Wenn wir uns in Gegenwart eines Schülers befinden, der zum Beispiel nicht in der Lage ist, den Daumenuntersatz mit der notwendigen Leichtigkeit und Geschmeidigkeit auszuführen, weil er den Daumen anspannt (weit verbreitet und typisch ist das Problem des vorderen Fingerglieds, das steif nach außen gekrümmt wird), ist der stärkste Eindruck der, dass diese Sperre den Zugang zu einem Raum seiner technischen – expressiven Möglichkeiten blockiert.

Das Entfernen dieser Sperre und das Öffnen eines Zugangs wird das Klavierspiel nicht nur um ein Vielfaches vereinfachen, bereinigen und beschleunigen, sondern auch einen vorbildlichen Präzedenzfall erschaffen, der uns in die Lage versetzt, zu vertrauen und die Straße frei zu machen, um weitere Sperren zu entfernen, auch wenn sie auf scheinbar unerreichbarem Niveau liegen.

Die Bereitschaft, das Vertrauen und die Gewöhnung, in die Räume unseres Daseins immer tiefer und ohne Bedenken vorzudringen, sind das größte Geschenk, das uns das Studium der transzendentalen Disziplinen, wie es das Yoga und die Musik sind, darbringen kann.

Sie lehren uns den Kreislauf, der darin besteht, in uns selbst einzutauchen, um mit Schätzen beladen wieder aufzutauchen, die wir der Welt, dank der Vermittlung einer Technik, weitergeben können, die eben dieses Zentrum bildet – als Bezugspunkt und dennoch in ständigem Progress – im Leben eines jeden Künstlers.

Kurze Anmerkungen zur Konzerterfahrung

Zahlreiche Studien, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, berichten von faszinierenden Ergebnissen beim Scannen der Gehirnaktivitäten (zum Beispiel mit der Technik der Magnetresonanztomographie), durchgeführt bei Pianisten während einer Konzertaufführung.

Diese Erfahrungen haben eben erst begonnen, uns die außergewöhnliche Komplexität des Aktes des Klavierspielens, aus neurologischer Sicht, zu  offenbaren. Die zahlreichen Gehirnregionen, die aktiviert werden und, dank der Musik,  miteinander in Kommunikation treten, und ebenso – ein weiteres sehr wichtiges Forschungsfeld – die Regionen, deren Aktivität unter bestimmten Umständen zeitweilig verringert wird (zum Beispiel: Ein Pianist, der improvisiert, ist in der Lage, den Verbrauch von Sauerstoff und Glukose im dorsolateralen Teil des präfrontalen Cortex zu verringern, einem Bereich des Frontallappens der Großhirnrinde,  von dem normalerweise angenommen wird, dass er für die Kontrolle von geplanten Handlungsabläufen oder Selbstkontrolle zuständig ist, wie z. B. mit der Auswahl der richtigen Worte bei einem Arbeitsgespräch).

Ein winziger Teil der bisherigen Ergebnisse würde ausreichen, um zu beweisen, dass nur wenige menschliche Tätigkeiten (oder vielleicht keine einzige), in der Lage sind, das Gehirn derart zu aktivieren und formbar zu machen – seine Aktivität auf so umfassende und gleichzeitig gezielte Art zu beeinflussen und zu verstärken – wie das Spielen eines Instruments. Diese Komplexität hält davon ab, sich mit einem solchen Thema an dieser Stelle, mit dem hier zwangsläufig begrenzten Raum, auseinanderzusetzen, und verweist auf die Ergebnisse der Spezialisten, die sich auf fortschrittlichste Technologien berufen können. Gleichzeitig muss im Hinblick auf meine Annährung an diese Aspekte als Interpret und Lehrer gesagt werden, dass der subjektive Bestandteil so überwiegt, dass er die direkte Beziehung von Fall zu Fall, je nach Situation und Schüler, notwendig macht.

Sicher ist, dass ein Interpret, der in der Öffentlichkeit spielt, sein gesamtes Selbst auf die Bühne bringt und seine eigene Lebenserfahrung im weitesten Sinne erzählt. Wesentlich ist von daher die Beziehung, die wir, allem voran, zu uns selbst haben, und welche Fähigkeit wir besitzen, mit uns selbst zu kommunizieren (notwendig, um auch mit anderen kommunizieren zu können).

Die Kunst, sich selbst zu hören, wird daher wesentlich. Ich habe den Eindruck, das dieses so essentielle Vermögen des Menschen – möglicherweise der einzige Weg, der uns zu einem echten persönlichen Wachstum führen kann – heute ziemlich übersehen, um nicht zu sagen, bewusst vernachlässigt wird. Die für unsere Zeit so typische Angewohnheit, jede beliebige Umgebung mit Hintergrundmusik zu füllen, üblicherweise auf einem elektronisch erzeugten Rhythmus basierend und wie dieser sehr banal, aggressiv und ohne Pause, scheint tatsächlich darauf ausgerichtet, zu verhindern, dass der Mensch mit sich selbst alleine bleibt und das Risiko somit zu beseitigen, dass er lernen könnte, sich zuzuhören und sich tatsächlich kennenzulernen. (4) In der Tat scheint die instinktive Aversion, die viele mir bekannte Musiker gegenüber diesem musikalischen „Ketchup“ verspüren, das man ohne Unterschied über einem Großteil der Klanglandschaft ausgießt, in der wir uns befinden – und das eine gleichsam identische „Geschmacksnote“ jenen Momenten in unserem Leben verleiht, die doch so unterschiedlich sein könnten – meiner Meinung nach, ausgerechnet aus dem Bedürfnis herzurühren, das jeder Solist hat: Einen tiefgründigen, fließenden und ungestörten Kontakt mit den innersten Bereichen des eigenen Ich.

Sich selbst zuzuhören ist eine Kunst, die gleichzeitig eine äußerste Wachsamkeit und eine ausgeprägte Fähigkeit im „Nichtstun“ erfordert. Die berühmte Anekdote des Zen-Meisters, der bei der ersten Begegnung mit dem Schüler, Tee in eine bereits volle Schale gießt, ihn damit verschüttet und auf dem Tisch verteilt, um mit diesem Beispiel zu verstehen zu geben, dass nichts in einen randvollen Behälter gelangen kann (das heißt, ein Kopf, in dem nicht vorher Stille geschaffen wurde, kann nichts lernen), scheint mir der beste Rat, der einem Solisten erteilt werden kann, im Moment, in dem er auf der Bühne steht.

Die Methoden, um diese innere Stille zu erreichen, können mannigfaltig sein, und oft zueinander im scheinbaren Gegensatz stehen. Ein Klassiker sind Stretching-Übungen: Neben dem Aktivieren, Lockern und besseren Vorbereiten der Muskelstränge, die an der musikalischen Darbietung teilhaben werden, haben sie den Effekt, den Musiker „auf sich selbst“ zurückzulenken, indem das Gehirn wenigstens teilweise von dem fortwährenden Hintergrundgeräusch befreit wird, das die Gedanken sind, in die versunken wir leben.

Sehr effizient ist außerdem, wenn es gelingt, vor einem Konzert zu schlafen, und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Manchmal ist es sonderbarerweise ausgerechnet die Musik, die dabei helfen kann. Ein polyphones Stück hören, während man sich mit geschlossenen Augen hingelegt hat, dabei die Entwicklung jeder einzelnen Stimme visualisierend, zusammen mit dem harmonischen und formalen Verlauf der Komposition, ist eine Aktivität, die unser Bewusstseins vollständig für sich beansprucht, und gleichzeitig verlegt sich das Gehirn auf eine langsamere und ausgeglichenere Arbeitsmethode, die in eine sehr spezielle Form des Schlafes leiten kann. In dieser verliert man nicht das Bewusstsein der musikalischen Syntax und des Dialogs zwischen den Stimmen, all dies gewinnt vielmehr einen neuen Aspekt, bisweilen eigenartig personifiziert (etwas ähnliches beschreibt Proust auf der ersten Seite von „Recherche“, im Zusammenhang mit dem im Schlaf erfolgtem Fortsetzen der Lektüre seines Buches, mit dem er eingeschlafen war).

Aus diesem mentalen Zustand zu erwachen ist äußerst belebend und erlaubt später beim Spielen, dass die Musik sich ausbreiten und durch uns leben kann, aus dieser eigenen Wirklichkeit heraus erstrahlend und scheinbar damit unabhängig vom Willen des Interpreten, der ihr die größte Kraft und Entschiedenheit verleiht. (Tatsächlich kann eine großartige Interpretation unvorhersehbar sein, aber hat man sie einmal gehört, hat man den Eindruck, das die Dinge nur so und nicht anders sein können).

Meine Erfahrung als Lehrer lehrt mich, dass man die Musiker-Persönlichkeit eines Schülers nie so lebhaft und deutlich begreifen kann, wie wenn man ihn öffentlich spielen hört, gleichzeitig kann man die psychisch-physischen Schwierigkeiten ermitteln, die noch überwunden werden müssen. Aus diesem Grund bin ich der absoluten Überzeugung, dass der wirkliche Unterricht, das richtige Zuhören, dort erfolgt, und es ist notwendig sicherzustellen, dass die Schüler so oft wie möglich in der Öffentlichkeit spielen.

Die Betrachtung des Einzelfalls kann jedoch derart umfassend sein, dass der bloße Versuch, allgemeingültige Regeln aufzustellen, meiner Meinung nach, zu einer Beschränkung des Aktionsfeldes führen würde, wo es stattdessen erweitert werden müsste.

Ich werde mir jedoch immer mehr dessen bewusst, dass das Vorgehen des Lehrers ein „Sich widerspiegeln“ im Schüler beinhalten muss, das heißt, sich in sein Spiel hineinzuversetzen, es von innen heraus zu leben und, ebenfalls von innen heraus, den Weg zu finden, die Schwierigkeiten zu überwinden.

Nach dem Konzert

Obwohl es sich um subjektive Reaktionen handelt und die faszinierendste Seite der Erfahrung eines Lehrer das anhaltende Bedürfnis nach Erweiterung ist, danach, die eigenen Fähigkeiten der Diagnose und des Eingreifens anzupassen, sie abzuwägen und neu auszurichten, um die tieferen Abläufe des Spiels seines Schülers beeinflussen zu können (das alles, um die Nebenwirkungen, möglichst gering zu halten, also z. B. jene Imitation oder jenes Nacheifern des Lehrers, das normal ist, aber nicht unterstützt werden sollte, weil es dem Schüler nicht hilft, sich zu verbessern), habe ich immer festgestellt, dass ein Konzert den Moment einer Erweiterung des Ich’s darstellt, und dass das erweiterte Ich, vor allem nach einem besonders intensiv erlebten Konzert, das Bedürfnis verspürt, bevor es sich wieder verdichtet und wieder auf die gewöhnlichen Grenzen trifft, innerhalb derer es sich bewegt, eine Gegenüberstellung zu finden, einen Empfang, einen Austausch mit der Umgebung, die den Kanal fortführt und am Leben hält, der sich zwischen der eigenen intensiveren und tieferen Seite und der Außenwelt, bzw. dem Publikum, gebildet hat.

Am meisten empfehle ich, sofort mit dem Üben fortzufahren. Es ist eine höchst positive Herangehensweise, die erlaubt, die eben erlebten Erfahrungen einzubeziehen und die Geläufigkeit und den Zustand des Flusses der Energie, der sich während des Konzertes herausbildet, zu nutzen, ihn auf konstruktive und kreative Ziele zu lenken, wo sie in Form von Fortschritten des neuen Bewusstseins und  der persönlichen Steigerung gefestigt werden. Jede Energie, die nicht genutzt wird und nicht auf ein wichtiges Ziel gelenkt wird, fällt schließlich auf den zurück, der sie erzeugt hat. Das ist eines der Motive, weshalb sich für einige der Musiker, die ich getroffen und erlebt habe, das „Danach“ eines Konzertes, in einen Moment der Enttäuschung verwandeln kann (als Zeichen für ungelenkte Energie).

© Filippo Faes 2008 (Übersetzung: Katja Hofmann)

Anmerkungen:

(1)     Diesbezüglich halte ich die Erfahrung, die ich an mir selbst gemacht und an viele meiner Schüler mit Erfolg weitergegeben habe, für sehr wichtig. In Passagen, in denen die Sprünge den höchsten Schwierigkeitsgrad erreichen (wenn der Verstand also handeln muss und nahezu simultan eine Aktion in Bereichen der Tastatur koordiniert, die weit voneinander entfernt sind), besteht die beste Herangehensweise darin, den eigenen Willen, die Tasten zu treffen, zu neutralisieren und stattdessen die gesamte Energie auf das innere Visualisieren des Tastaturaufbaus zu lenken und auf die Abfolge, die wir ausführen wollen.

Daraufhin geschieht etwas ähnliches, wie das, was Herrigel in seinem Buch beschreibt, wonach man den Eindruck hat, die Tasten würden uns entgegen kommen, so wie der Bogen, wenn er in unserem Geist mit höchster Konzentration materialisiert würde, dem Pfeil entgegenkommt. (Um vor allem nicht zu vergessen, etwas nüchterner formuliert, dass solches Üben  eine enorme Bereicherung im Bezug auf die Gelassenheit, die Aufmerksamkeit und das Einsparen an Energie bedeutet; alles Faktoren, die dazu beitragen, besser Klavier zu spielen und den Weg für weitere Entwicklungsschritte zu öffnen).

(2)    Ein Beweis für ihre Gültigkeit ist meines Erachtens die Tatsache, dass diese Prinzipien, wenn man sie einmal verinnerlicht hat und sie wirklich Teil von uns geworden sind, keinerlei Hürden bilden, verschiedene Erfahrungen zu sammeln und auf Vorschriften von Schulen angewendet zu werden, die völlig gegensätzlich zu ihnen sind. Eine diesbezügliche Erleuchtung war mir der Besuch von Franco Gei, Schüler und langjähriger Freund von Arturo Benedetti Michelangeli und Hüter seiner Lehren. Schon der Vergleich der nahezu gegensätzlichen Herangehensweisen, die Vitale und Michelangeli gegenüber der Technik des cantabile hatten (zu erzielen einzig und allein durch das Gewicht – übertragen durch eine fast sofortige Aktion, die Artikulation ausschließend – nach der Ersten; einer lockeren Artikulation und dem Druck des Fingers überlassen, bisweilen fast flach, nach der Zweiten), regt zu einer Reihe von sehr interessanten Überlegungen an, sowohl über die physiologischen Reaktionen als auch die verschiedensten psychologischen, die man erzielt, wenn man sich der einen oder anderen Überzeugung zuwendet und den Tausenden Möglichkeiten, die das Zusammenwirken beider anbieten kann.

Und in Bezug darauf, keine Scheu zu haben, sich immer zu hinterfragen, und auch von der Anwesenheit des eigenen Lehrers zu profitieren, von Kollegen, mit denen man sich auseinandersetzen kann oder vom Publikum (Vitale sagte immer, dass der wahre Unterricht die Bühne sei – also das Spielen vor Publikum), bin ich mehr und mehr davon überzeugt, dass jede Lektion ein „heftiges Schütteln“ darstellen müsste, wie an einem Baum, bei dem daraufhin nur die grünen Blätter, die lebendigen, in denen der Lebenssaft zirkuliert, an den Ästen hängen bleiben. Die anderen nicht und das ist Glück, denn auf diese Weise dringt mehr Licht hindurch, das die Sicht erhellen und das Wachstum nähren wird.

(3)    Ich habe oft beobachtet, dass für viele Schüler das Üben einer Passage vor allem hieß, sie zu wiederholen. Nun bringt aber die pure Wiederholung nicht zwangsläufig Verbesserungen mit sich, auch weil man auf diese Art riskiert, ebenfalls die Fehler zu wiederholen und somit sogar zu festigen.

Ein Pianist, der besorgt ist, weil die Passage nicht recht gelingen will, und der daraufhin auf diese Weise übt, erinnert mich an einen Landwirt, der besorgt ist, weil seine Saat nicht aufgeht, und der daraufhin auf seinem Feld hin- und herläuft und ein ums andere Mal seine Spuren hartnäckig einstampft. Das wahrscheinliche Resultat wird die Verhärtung sein, eine Verfestigung des Bodens, der darauf noch weniger fruchtbar sein wird, und noch weniger Erträge als vorher bringen wird. Stattdessen muss man ein System finden, ihn zu pflügen, also die Gewohnheiten abkratzen, auflockern, Luft holen lassen, von den Abfolgen festgefahrener und veralteter Bewegungen. Eine der Methoden, um das zu tun, besteht aus rhythmischen Varianten, sehr wirkungsvoll, vorausgesetzt, sie werden mit der Kenntnis des Verfahrens angewandt. Daher muss es zu jeder Variante auch ihr Gegenteil geben (eine Angelegenheit, auf der Vitale besonders bestand), was bedeutet, dass auf den punktierten Rhythmus sein Gegenteil folgen muss, und der Variante, in der man auf dem ersten Ton jeder Quartole pausiert, muss die mit der Fermate auf dem zweiten Ton, auf dem dritten, dem vierten usw., folgen.

Es ist außerdem wesentlich, zu begreifen, warum die Varianten hilfreich sind und sie dadurch in ihrer Wirkung zu optimieren. Die Varianten dienen dem Wachrütteln der Fingertätigkeit und der Kontrolle, dass sie nicht vom fälschlichen Anspannen  anderer Muskeln begleitet ist. Es wäre natürlich schwieriger, eine schnelle Passage zu spielen, so wie es beschrieben ist. Die Varianten ermöglichen uns jedoch, alle vier Töne einen zu kontrollieren (wie im oben genannten Beispiel), unseren Willen und unsere Handlung auf diesen Ton zu konzentrieren, während wir für den Moment die anderen vernachlässigen, um uns dann, über die nachfolgenden Varianten, jedem Ton im Wechsel zuzuwenden. Es ist also sehr wichtig, dass diese wirksame Kontrolle von einem ja und drei nicht (um immer noch beim o. g. Beispiel der Quartolen zu bleiben), einem realen Unterschied entspricht, im Tastenanschlag, in der Artikulation und in der Energie des Fingers, zwischen dem Ton, auf dem er pausiert und den anderen, die hingegen mit kleinster Anstrengung gespielt, fast übergangen werden.

Ich versuche immer sicherzustellen, dass die Schüler in der Lage sind, den Tastenanschlag in Übungen dieser Art, wann immer es möglich ist, zu unterscheiden, weil ich davon überzeugt bin, dass wir, indem wir Unterschiede schaffen und sie uns bewusst machen, also unser Vorgehen auffächern, dahin gelangen, Räume zu schaffen, in deren Innerem sich unser Potenzial ausbreiten kann.

(4)    Eine interessante Beobachtung in diesem Zusammenhang betrifft einige Erfahrungen von Biofeedback auf die Herzkohärenz, die während der letzten Jahre in den Vereinigten Staaten gemacht wurden. Da die Frequenz des Pulsschlags nicht konstant ist, nicht einmal wenn sich der Körper im Zustand der Ruhe befindet, sondern vielmehr stets einer Sinuskurve folgt, die Beschleunigung und Verlangsamung mit sich bringt, wurde festgestellt, dass es möglich ist, wenn diese Sinuskurve auf einem Monitor dargestellt wird, den die Testperson in Echtzeit beobachtet, dass diese lernen kann, den Verlauf der Kurve zu beeinflussen und ihn allmählich zu regulieren. Sich diese Fähigkeit anzueignen, hat eine erfrischende Wirkung auf die Stimmung, auf das psycho-physische Gleichgewicht und soll ein ausgezeichnetes Heilmittel gegen Depressionen sein. Die Erfahrung zeigt uns folglich, dass wir Rezeptoren besitzen, die fähig sind, eine Art inneren Rhythmus zu empfangen, der von den meisten Menschen nicht beachtet wird, der aber eine beträchtliche Wirkung auf ihr Wohlbefinden hat.

Stellen wir uns jetzt eine Hyperstimulation vor, die derartige Rezeptoren in der Gegenwart eines exogenen Reizes ertragen müssen, z. B. den obsessiven und hämmernden Rhythmus einer Techno-Musik, oder jeder beliebigen Beanspruchung durch sehr hohe Lautstärken, denen wir in einer Diskothek ausgesetzt sind.

Es ist mehr als ersichtlich, dass Reize von dieser Intensität – noch vor dem Gehörsystem desjenigen, der es erträgt – diese sehr empfindlichen Rezeptoren taub machen, die daraufhin immer stärkere Beanspruchung brauchen, um nicht in Hypotonie zu geraten.

Wenn wir an den Wirkmechanismus einer typischen Droge denken, die in der Lage ist, eine Abhängigkeit hervorzurufen (z. B. Kokain), stellen wir fest, dass es sich um eine exogene Substanz handelt, die die Rezeptoren, die auf endogene Substanzen ausgerichtet sind (in dem Fall das Dopamin), hyperstimuliert und sie damit letzterem gegenüber unempfindlich macht, und in der Folge immer abhängiger von der Droge, um Entzugserscheinungen zu vermeiden, bzw. eine induzierte Hypotonie.

Der Mechanismus ist demnach genau derselbe. Man muss sich fragen, warum weder das Gesetz noch die allgemeine Moral die Bildung einer solchen Abhängigkeit erkennt oder verbietet, obwohl diese Schäden hervorrufen kann, die völlig mit denen einer schweren Droge vergleichbar sind, wenngleich nicht auf Anhieb zu erkennen…

© Filippo Faes 2008 (Übersetzung: Katja Hofmann)